Der Dethlinger Teich – Die verborgene Umweltsünde

Am 16.09.2019 blicken alle Munsteraner, Oerreler und Trauener gemeinsam sorgenvoll in Richtung des Dethlinger Teiches, einem auf Satellitenbildern unscheinbarem Fleckchen in einem Waldstück nahe der Bundesstraße 71. Dann beginnt nur 3 km südöstlich von Munster entfernt, 2,5 km nördlich von Trauen und nicht mehr als 2 km westlich von Oerrel die Beseitigung einer 70 Jahre alten Umweltsünde, bevor sie zur Umweltkatastrophe werden kann.

Mit einem erheblichen Aufwand aus hochmoderner Spezialtechnik und professionellen Experten wagt sich die Kölner Ingenieursgesellschaft Mull & Partner an die zugeschüttete Grube heran, in der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit explosive Sprengstoffe und tödliche Chemikalien aus dem 2. Weltkrieg verbergen sollen. Mehr als 2 Millionen Euro kostet allein die Probebohrung, die jetzt Mitte September 2019 durchgeführt wird. Die gesamten Sanierungskosten aller Gefahrstoffe werden sich schätzungsweise auf über 50 Millionen Euro belaufen.

Doch wie konnte es bloß dazu kommen?

Hier ein Zeitablauf der Ereignisse:

1923 – Ungefähr 1 km nordöstlich von Dethlingen wird eine Kieselgur-Abbaustätte angelegt. Dank seiner Porosität und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Chemikalien wird Kieselgur zum Beispiel bei Filtrierkerzen zur Wasseraufbereitung verwendet. Bereits zu diesem Zeitpunkt befindet sich das Gelände bis zum heutigen Tage in Privatbesitz.

1926 – Der Kieselgur-Abbau bei Dethlingen wird eingestellt. Grundwasser und Regen sorgen dafür, dass die stillgelegte Tagebaumulde mit Wasser vollläuft. Der Dethlinger Teich ist entstanden.

1935 – Während der Nazi-Zeit werden in der Nähe des Ortes Oerrel mehrere Rüstungsanlagen errichtet. Eine davon ist die Lufthauptmunitionsanstalt (Luftmuna) 5/XI, die in unmittelbarer Nähe des Dethlinger Teiches mit mehr als 150 Gebäuden angelegt wird. Die meisten dieser Bauten sind Bunker, die für die Befüllung von Bomben mit Chemikalien und zur Lagerung von Munition für die Luftwaffe vorgesehen sind. Der gesamte Komplex ist überwiegend mit Erde und Wald getarnt und direkt mit Gleisen ans Netz der Reichsbahn angeschlossen.

1941 – Westlich der Anlage wird zusätzlich eine Brandbomben-Füllstelle in Betrieb genommen, bei der bis Kriegsende je nach Bedarf 250 kg und 500 kg Brandbomben ihren explosiven Inhalt erhalten.

1942 – In der Luftmuna 5/XI Oerrel werden für die Luftwaffe chemische Kampfstoffe in Bomben abgefüllt und eingelagert. Die tödlichen Chemikalien werden mit Kesselwagen über die Bahnstrecke Hannover-Celle angeliefert. Anschließend werden die leeren Wagons mit Wasser ordentlich durchgespült. Bereits zu diesem Zeitpunkt wird entschieden, das giftige Abwasser nach der Reinigung der Kesselwagen in den Dethlinger Teich zu entsorgen.

1945 – Die britische Armee rückt im April von Westen aus an und befreit Munster und die umliegenden Ortschaften. Die Belegschaft der Luftmuna 5/XI Oerrel ergibt sich widerstandslos der britischen Besatzungstruppe und händigt die gesamte Anlage mit einem Depot aus 150.000 Kampfstoffbomben aus.

1946 – Die Briten beginnen, den transportsicheren Teil der chemischen Kampfmunition per Eisenbahn gen Norden zu überführen, wo anschließend der hochgiftige Kriegsabfall in die Nord- und Ostsee versenkt wird. Alles was zu gefährlich ist für die Reise zur Küste – wie zu empfindliche Bomben und unverfüllte chemische Kampfstoffe – soll vor Ort verklappt werden. Vermutlich wird hierfür der unmittelbar anliegende Dethlinger Teich genutzt.

1948 – Das Bombenräumkommando der Polizei Hannover übernimmt die weitere Entsorgung der Kampfmunition und kippt laut Zeugenaussagen weiterhin chemische Kampfstoffe und Munition in den Dethlinger Teich.

1952 – Da sich immer wieder Anwohner an den Dethlinger Teich heranwagen, um unter Lebensgefahr Munitionsteile zu bergen und an Schrotthändler zu verkaufen, wird die Grube mit Bauschutt versiegelt, der aus den gesprengten Bunkern der nahen Waffenfabrik Luftmuna 5/XI Oerrel stammt.

1957 – Die zuständigen Behörden befürchten mittlerweile eine erhöhte Gefahr durch giftige Kontamination im Grundwasser und richten die ersten Messstellen am Dethlinger Teich ein. In regelmäßigen Abständen werden intensiv Proben entnommen und im Labor untersucht. In den folgenden vier Jahrzehnten konzentrieren sich die Experten vor allem auf den Nachweis von Arsen, da dieser Giftstoff in verschiedenen Verbindungen ein wesentlicher Bestandteil von chemischen Kampfstoffen ist.

1975 – Weitere 16 Messstellen werden im Auftrag des Wasserwirtschaftsamtes Celle am Dethlinger Teich eingerichtet.

1996 – Die Zuständigkeit für die Entsorgung der Altlasten im Dethlinger Teich wechselt vom Land Niedersachsen auf den Landkreis Soltau-Fallingbostel über, dem heutigen Heidekreis.

1999 – Der Landkreis lässt den sogenannten Schrägbrunnen B21 direkt unterhalb der Grubensohle des Dethlinger Teiches bauen und errichtet weitere sieben Messstellen zur Probenentnahme des Grundwassers. Der Nachweis des chemischen Grundstoffs von Senfgas namens Lost wird fortan bei der weiteren Analyse herangezogen. Von 1998 bis 2009 wird der bislang höchste Anteil von Lost an einer Messstelle im südlichen Bereich des Dethlinger Teiches festgestellt. An einer Stelle im südwestlichen Bereich des Teichs wird der bislang höchste Arsengehalt gemessen.

2009 – Das Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ) wird für die weitere Überwachung des Dethlinger Teiches zur Unterstützung herangezogen und es folgt eine Modernisierung der Messstellen, nachdem ein Jahr zuvor herausgefunden wurde, dass das bestehende Messnetzwerk für präzisere Untersuchungen zu ungenau ist.

2014 – Der Landkreis erstellt ein Konzept der Gefährdungseinschätzung des Dethlinger Teichs und beginnt mit den Planungen zur Sanierung der dort vergrabenen Kampfstoffe. Hier soll zunächst in fünf Jahren eine Probebohrung stattfinden, um mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen eine Machbarkeitsstudie anzufertigen, ob und in welcher Form die sichere Bergung und Beseitigung der tödlichen Substanzen stattfinden kann.

2015 – Dank des UFZ werden mithilfe von zusätzlichen Leitungssystemen Tracer-Flüssigkeiten in das Grundwasser im Bereich des Dethlinger Teiches gegossen, um die Fließrichtung des Grundwassers zu ermitteln. Außerdem kann eine erste Schöpfprobe aus dem Teich entnommen werden, bei der Abbauprodukte von Lost und eine erhebliche Verunreinigung durch Teerpech festgestellt wird, das vermutlich 1952 als Dachpappe zusammen mit dem Bauschutt der gesprengten Bunker in den Teich gelangt ist.

2018 – Zum ersten Mal wird das als Nasen- und Rachenkampfstoff eingesetzte CLARK-1 (Chlor-Arsen-Kampfstoff) an einer Messstelle des Dethlinger Teichs festgestellt.

2019 – Im September findet im Auftrag des Heidekreises die so genannte „Teichöffnung“ statt, um die fünf Jahre zuvor beschlossene Probebohrung mit der Kölner Ingenieursgesellschaft Mull & Partner durchzuführen. Feststoff- und Flüssigkeitsproben sollen aus dem Dethlinger Teich dazu entnommen werden, um Erkenntnisse über die Menge, die Art und den Zustand der versenkten Munitions- und Giftstoffreste zu erhalten. Erst dann können die weiteren Schritte zur Sanierung geplant und Risiken abgeschätzt werden. Zu diesem Zweck wird eine Leichtbauhalle über den freigelegten Bohrschacht errichtet, um mit Unterdruck, einem Absaugsystem und einer Detonationswand die Umgebung vor einer möglichen Havarie zu schützen (siehe Grafik oben). Das geborgene Material wird dann per Förderband zu einer Andockstation transportiert, um es dort sicher in versiegelte Container umzuladen. Ursprünglich war die „Teichöffnung“ bereits im Winter 2017/18 vorgesehen, doch Bauarbeiten an der Bundesstraße 71 ließen den Zeitplan hinauszögern. Die Arbeiten werden voraussichtlich bis Ende des Jahres andauern.

2020 – Aufgrund der gewonnenen Daten und Fakten, die ein Jahr zuvor die „Teichöffnung“ erbracht hat, veröffentlicht der Landkreis eine Machbarkeitsstudie, in der die derzeitige Gefahrensituation des Dethlinger Teiches zusammengefasst ist und die notwendigen Arbeitsschritte zur Reinigung des Areals beschrieben werden. Ferner bewilligt der Landkreis die dazu benötigten Finanzmittel, an denen sich auch das Land Niedersachsen beteiligen wird. Die ersten Ausschreibungen an Firmen laufen, die mit der endgültigen Sanierung beauftragt werden.

2021 – Die ersten Vorbereitungen zur Sanierung des Dethlinger Teiches werden 70 Jahre nach seiner Kontaminierung endlich gestartet.

Was wurde angeblich im Dethlinger Teich versenkt?

  • ca. 100.000 Stck. Zündladungen vom Typ C-98
  • ca. 3.000 Stck. Kampfstoffgranaten, Kaliber 7,5 cm bis 32 cm
  • ca. 150 Stck. Kampfstoffmunition 7,5 cm bis 15 cm
  • ca. 200 – 300 Phosgenbomben mit Füllung, entschärft (ca. 100 kg pro Stck.)
  • ca. 300 Fässer mit je 250 l Flüssig-Phosgen
  • ca. 100 Fässer mit jeweils rd. 100 l Lost

Da es keine schriftlichen Dokumente diesbezüglich gibt, basieren diese Angaben lediglich auf Zeitzeugen und groben Schätzungen, weshalb sie wissenschaftlich gesehen als sehr ungenau gelten müssen. Erst die Teichöffnung im September wird womöglich mehr Licht ins ungewisse Dunkel bringen.

Quellen:

www.heidekreis.de

„Bericht der Teichöffnung Dethlinger Teich – Feinplanung“, Mull und Partner Ingenieurgesellschaft mbH, Hannover, 2018

www.geschichtsspuren.de