Reicht der Mindestlohn aus zum Überleben?

Einen eindeutigeren Beweis dafür, dass sich die Einführung des Mindestlohns bewährt hat, gibt es nicht: Das allgemeine Lohnniveau steigt und mit ihm wächst die Anzahl der Beschäftigung in Deutschland. Darüber hinaus kollabierte entgegen der Meinung zahlreicher Skeptiker keineswegs die deutsche Wirtschaft. Stattdessen hat die gesetzliche Lohnuntergrenze nicht nur zu einer Dynamik bei der Entwicklung der Arbeitnehmergehälter beigetragen, sondern auch zugleich den privaten Konsum und den wirtschaftlichen Wachstum insgesamt beflügelt.

Allerdings ist verglichen zu anderen Ländern das Niveau des Mindestlohns noch relativ niedrig – Deutschland steht an sechster Stelle hinter Frankreich, Irland und den Benelux-Staaten. Wer rein nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt wird, kann in vielen Großstädten auch als Alleinstehender häufig kein Leben führen, ohne zusätzlich Hartz-IV-Unterstützung vom Sozialamt zu beziehen. Außerdem wird nicht allzu selten der Mindestlohn gesetzeswidrig umgangen wie zum Beispiel beim Baugewerbe und in der Gastronomie.

Trotz der deutlichen Lohnsteigerungen bei Geringverdienern ist die Anzahl der Aufstocker leider kaum gesunken: 2018 waren einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge nach wie vor mehr als 190.000 Beschäftigte trotz Vollzeitjob zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Nach Ansicht der Wissenschaftler dürften dafür unter anderem die rasant steigenden Mieten in vielen Städten die Ursache sein. Nach ihren aktuellen Berechnungen wären in 18 der 20 größten deutschen Städte Stundenlöhne oberhalb von 9,19 Euro brutto notwendig, damit ein als Single lebender Beschäftigter bei einer durchschnittlichen tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden ohne zusätzliche Leistungen vom Amt überleben könnte (siehe obige Schautafel).

Als wesentliche Messlatte zum Bestimmen einer Gehaltsschwelle, die ein Beschäftigter mindestens überschreiten muss, um sich ein existenzsicherndes Leben finanzieren zu können, dient der so genannte Medianlohn. Der Medianlohn kennzeichnet exakt den Verdienst, der genau in der Mitte der Verteilung liegt, bei dem also genau die eine Hälfte der Arbeitnehmer mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Hierbei spielt die 60-Prozent-Marke die entscheidende Rolle: Löhne oberhalb von 60% des Medianlohns gelten als einigermaßen existenzsichernd, da Alleinstehende dann in der Regel ohne staatliche Sozialleistungen von ihrer Arbeit leben können.

Die Empfehlung der Wissenschaftler der Hans-Böckler-Studie lautet daher: Für einen gewissen Zeitraum sollte der Mindestlohn stärker steigen als die Tariflöhne und ihnen nicht wie bisher mit großem Abstand wie ein Nachzügler hinterher laufen. Sollte die Lohnuntergrenze 60% des Medianlohns betragen, so müsste der deutsche Mindest-Stundenlohn auf annähernd 12 Euro angehoben werden. Tatsächlich hatte die SPD in ihrem Wahlprogramm vorgeschlagen, den Mindestlohn schrittweise auf 12 Euro zu erhöhen. Dies wird von der Union, dem Koalitionspartner in der Bundesregierung, aber weiterhin kategorisch abgelehnt.